Wie erleben Kinder und Jugendliche häusliche Gewalt?

Puppenstube-Gewalt

Wenn der Papa die Mama schlägt…

  • steh ich in der Türe und schaue zu.
  • hab ich ganz schrecklich Angst.
  • bin ich furchtbar wütend.
  • will ich der Mama helfen, aber ich weiß nicht wie.
  • denke ich, dass ich vielleicht etwas falsch gemacht habe.
  • möchte ich immer auf Mama aufpassen und deshalb nicht mehr zur Schule gehen.
  • hab ich aus Angst Pipi ins Bett gemacht.
  • möchte ich den Papa festhalten, aber da müsste ich stark wie ein Riese sein.

Wenn es Zuhause sehr viel Streit zwischen den Eltern gibt, ist das für Kinder und Jugendliche sehr belastend. Manche Kinder erleben, dass sich der Vater nicht mehr unter Kontrolle hat und die Mutter beschimpft und schlägt. Manche Kinder geraten auch in die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern hinein und manche Kinder werden selbst geschlagen. Kinder fühlen sich oft verantwortlich und wollen den Eltern gerne helfen. Doch gleichzeitig fühlen sie sich hilflos, weil sich der Kreislauf der Gewalt fortsetzt. Immer wieder müssen sie an die erlebte Gewalt denken. Sie fühlen sich Zuhause nicht mehr sicher und geschützt.

  • Manche Kinder haben Angst und ziehen sich traurig zurück, manche schämen sich oder fühlen sich schuldig.
  • Manche Kinder sind wütend auf den Vater.
  • Manche Kinder haben in der Schule schlechte Noten und viel Ärger, weil sie sich nicht mehr konzentrieren können.
  • Kleine Kinder machen häufig wieder in die Hose und können nachts nicht mehr ruhig schlafen.
  • Manche Kinder verlieren das Vertrauen zu ihren Eltern und oft auch zu anderen Menschen in ihrer Umgebung.
  • Viele Kinder verlieren dabei auch ihr Selbstvertrauen und glauben nicht mehr an ihre Fähigkeiten und Begabungen. Die gesunde Entwicklung ihrer Persönlichkeit ist beeinträchtigt.

„Zu erleben, wie der Vater die Mutter misshandelt, demütigt und einschüchtert, beeinflusst das Bild, das Töchter und Söhne von Mutter und Vater haben. Und es beeinflusst die Beziehung zu Vater und Mutter. Kinder – selbst kleine Kinder – fühlen sich angesichts der Gewalt des Vaters und der Ohnmacht der Mutter sehr hilflos und ausgeliefert, aber auch verantwortlich für das, was passiert. Oft glauben sie, sie seien daran schuld. Oder sie versuchen, einzugreifen, den Vater zurückzuhalten, die Mutter zu schützen. Wenn sie sich einmischen, werden sie oft selbst misshandelt. Oder sie haben Angst, sich einzumischen und deshalb Schuldgefühle. Oder sie sehen, in welcher Verfassung die Mutter ist, und übernehmen die Verantwortung für die Versorgung und den Schutz ihrer Geschwister bzw. die Versorgung des Haushalts.“ (Barbara Kavemann KINDESMISSHANDLUNG UND –VERNACHLÄSSIGUNG, Jahrgang 3 Heft 2, S. 106-120, DGgKV, 2000)

Aus der Forschung ist inzwischen bekannt, dass Kinder und Jugendliche, die im Kontext häuslicher Gewalt aufwachsen, in allen Phasen der Gewalt zugegen sind.

  • 57 % der Kinder und Jugendlichen haben die Gewaltsituationen zuhause gehört.
  • 50 % haben die Gewaltsituationen zuhause gesehen.
  • 21 % sind selbst in die gewalttätigen Geschehnisse hineingeraten.
  • 10 % der Kinder sind in der Gewaltsituation selbst körperlich angegriffen worden.

Gewalt beginnt oder eskaliert häufig um die Geburt des ersten Kindes und setzt sich dann fort. Vielen Müttern gelingt es nur selten, ihre Kinder in eskalierenden Gewaltsituationen zu schützen, denn sie sind selbst so bedroht und die belastende Paardynamik bindet alle Kräfte.

Kinder und Jugendliche erleben das Anschreien, Bedrohen, Schütteln und Schubsen, das Ohrfeigen, Stoßen und Schlagen. Selbst in hochgradig eskalierenden Situationen wie dem sexuellen Bedrängen und Vergewaltigen und dem Bedrohen der Mutter mit einer Waffe sind sie anwesend.

Kinder und Jugendliche beobachten auch die Folgen der Gewalt wie Weinen und Schreien der Mutter, ihre Erschütterung und Verzweiflung, aber auch die blutenden Wunden, die Hämatome und den inneren Rückzug der Mutter. Sie beobachten oft auch die Distanzierung und Leugnung der Gewalttätigkeit durch den Vater, die Verschiebung der Schuldfrage, den Alkoholmissbrauch und die Spielsucht des Vaters usw.

Kinder und Jugendliche können sich von der Gewalt im Elternhaus nicht distanzieren:

  • Im kindlichen Gehirn gräbt sich aktuell Erlebtes tief ein und die neuronalen Strukturen zur Verarbeitung des Erlebten sind noch nicht voll entwickelt.
  • Die Bilder der Misshandlungen bleiben in der Erinnerung der Kinder sehr intensiv und können immer wieder neu starke Ängste auslösen, auch wenn die Kinder versuchen, die Bilder zu verdrängen.
  • Manche Kinder streiten zum Beispiel alles ab, was vorgefallen ist, gleichzeitig haben sie das dringende Bedürfnis, über die schrecklichen Geschehnisse zu sprechen, die immer wieder in ihr Bewusstsein treten.
  • Miterlebte bzw. selbst erlittene Gewalterfahrungen können in der Psyche des Kindes eine traumatisierende Wirkung entfalten und eine gesunde kindliche Entwicklung tiefgreifend stören.

Kinder und Jugendliche können mit Stress reagieren, mit Schlafstörungen, regressivem Rückzug, Angstzuständen und psychosomatischen Erkrankungen, mit depressivem oder aggressivem Verhalten, mit Schulschwierigkeiten und Entwicklungsrückschritten wie Einnässen, Einkoten, Verzögerung der Sprachentwicklung u.v.a.m.. Diese Symptome sind Ausdruck ihrer Überforderung mit der häuslichen Situation.

Zur Überwindung ihrer belastenden Lebenserfahrungen sind Kinder und Jugendliche in starkem Maße davon abhängig, dass man ihnen Glauben schenkt, ihnen zuhört und sie in ihrer Wahrnehmung ernst nimmt. Sie brauchen einen sicheren Ort, an dem sie ihre Verletzungen zeigen können und erleben, dass sie die bedrängenden und entwicklungshemmenden Lebenserfahrungen überwinden können.

Folgen von Gewalterfahrungen in der Kindheit

Gewalterfahrungen in der Kindheit werden aufgrund retrospektiver Untersuchungen zunehmend als wesentliche Ursache für posttraumatischen Stress, psychiatrische Erkrankungen, psychosomatische Beschwerden und Störungen des Sozialverhaltens im Erwachsenenalter angesehen.

Für die Ausprägung von späteren psychiatrischen Erkrankungen wie Suchtverhalten, selbstverletzendem Verhalten, Essstörungen, Angststörungen, Aggressivität und eigenem Gewaltverhalten, dissoziativen Störungen sind der Zeitpunkt der Misshandlung, die Dauer und die Häufigkeit der Wiederholung des Gewaltgeschehens, das Geschlecht des Kindes, Persönlichkeitsmerkmale, familiäre und soziale Faktoren von Bedeutung.

Häusliche Gewalterfahrungen prädisponieren Kinder und Jugendliche, Opfer anderer Gewalterfahrungen zu werden.

(Zahlenmaterial aus der Studie der Bundesregierung von 2004: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland.)